Freitag, 28. September 2007
12 Photos und ein Brief
appatoon, Freitag, 28. September 2007, 00:21
Mehr ist von Onkel H. nicht geblieben. Zugeweht und vergessen. Der kleine links auf dem Bild. Der mit dem weissen Hemd. Das ist er. Die restlichen Photos überdauerten in einer Klarsichtfolie. Ganz hinten im dicken Album. Ich weiß nichts über ihn. Fragen kann ich auch niemanden mehr. Die Zeit sedimentierte einfach zu schnell. Oder war ich zu langsam? Legt man die Bilder chronologisch nebeneinander, sieht man den Verfall. Es sind die Augen, die man nicht vergisst. Das letzte Bild an einem Weihnachtsabend. Eine graue Silhouette. Dunkle Höhlen. Ein Milchgesicht mit 19 Jahren. Und dann nach Jahrzehnten ein Brief von einem Augenzeugen. Das Ende und ein Anfang. Korrekt formuliert und sauber getippt. Gestorbene Hoffnungen und Gewissheit. Ganz hinten im Album.




15.10.1963

Sehr geehrter Herr (...),

Ende Jan. 1945 bin ich als Truppenarzt zum Stab des (...)-Regiments versetzt wurden und habe dort Ihren Bruder H. als Sanitätsdienstgrad kennengelernt. Am 1. März 1945 begann die große russische Offensive, wodurch ganz Hinterpommern in mehrere Kessel geteilt wurde. Ein Durchbruch mit der gesamten Einheit nach Westen war nicht möglich, deswegen wurde der Befehl gegeben, in kleineren Gruppen zu versuchen über die Oder zu gelangen. Ihr Bruder befand sich bei der Gruppe des engeren Stabes, wo auch ich mich befand; wir haben diese Tage Anfang März nachts marschiert und tagsüber geschlafen. Am Morgen des 8. März 1945 sind wir auf eine Försterei in einem grösseren Wald gestossen, die von den Einwohnern bereits verlassen war und haben uns dort zum Schlafen niedergelegt, nachdem vorher Wachen aufgestellt worden waren. Vormittags wurde eine russische Reiterpatrouille gemeldet, woraufhin wir durch die Fenster in den nahen Wald uns zurückgezogen haben. Es kam dabei zu einem Feuergefecht, dabei wurden den Russen Verluste zugefügt.
Es ist verständlich, dass wir nach der Auflösung der festgefügten Einheiten keine Verpflegungsmöglichkeiten mehr hatten. Ihr Bruder hatte einen grossen geräucherten Schinken organisiert, den er in der Eile beim Rückzug durch das Fenster vergessen hatte. Er kehrte deshalb um, um den Schinken zu holen. Dabei verspätete er sich leider und geriet als Nachzügler in den Hagel einer russischen Möschinenpistole, obwohl er vom Waldrand von uns Feuerdeckung bekam. Da ich erst verhältnissmässig kurze Zeit bei der Einheit gewesen war, wusste ich die Anschrift Ihres Bruders nicht. Ich wusste nur dass er aus (...) stammte. Die Leiche Ihres Bruders konnte auch von uns nicht geborgen werden, eine Beerdigung fand von uns aus nicht statt; daher war es auch unmöglich das Soldbuch und den sonstigen Nachlass sicherzustellen.
Ich bin Mitte dieses Jahres das 1. Mal durch den Suchdienst des "Roten Kreuzes" befragt worden und habe auf der Suchanzeige sofort das Bild Ihres Bruders erkannt und entsprechende Angaben gemacht. Es tut mir leid, dass Sie erst jetzt Gewissheit über das Schicksal Ihres Bruders bekommen.
Die Gruppe des Stabes ist am 10. März 1945 in russische Kriegsgefangenschaft gefallen, ich bin im Dez. 1949 nach Hause zurückgekehrt, nach solanger Zeit waren die Ereignisse des Zusammenbruches schon etwas in die Ferne gerückt und nicht mehr ganz fest im Gedächtnis verankert. Ich nahm damals an, dass die Hinterbliebenen mit Sicherheit benachrichtigt worden sind, zumal da auch meine Angehörigen von dem (...)-Regiment irrtümlicherweise eine Nachricht meines Todes bekommen hatten.
Ich hoffe Ihnen mit diesen Angaben gedient zu haben und verbleibe hochachtungsvoll

(...)

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