Samstag, 3. Februar 2007
Elektronisches Kasperle
appatoon, Samstag, 3. Februar 2007, 19:26
Es ist Samstag Nachmittag. Ich widme mich an einem Kaffee schlabbernd noch schnell der vernachlässigten Lektüre, bevor ich gleich nachher im Dunkel der kleinen Großstadt abtauche. Im SPIEGEL special mit dem Titel "Der digitale Mensch" stoße ich auf den faszinierenden Artikel "Elektronisches Kasperle". In dem Beitrag werden Visionen aufgezeigt, wie man sich die Nachbarschaft von Kleinbloggersdorf in Zukunft vorzustellen hat. Wem die Worte fehlen und wer der beschränkten Gefühlsbekundungen mit :-) und *rotwerd* müde sein sollte, kann sich bald eine neue virtuelle körperliche Hülle in Form eines animierten Püppchens, Avatar genannt, zulegen. Ein paar Klicks auf die animierten Buttons und schon erstrahlt mein Äußeres in neuem Glanz. Schnell noch im Fratzen-Editor "Pierce Brosnan's" Gesicht mit Option "Augenaufschlag" aufgesetzt, bevor Mama im Hintergrund mit erhobenen Zeigefinger auf die Dringlichkeit der nicht erledigten Hausaufgaben hinweist. Extras wie Designerbrille für den Herrn oder längere Wimpern für die Damen können seperat gegen Aufpreis geordert werden. Eine Welt heiterer Rollenspiele mit Fokus auf das Visuelle, denn wir vermissen doch alle so sehr das Gesicht aus Fleisch und Blut mit allen seinen kleinen Hautunreinheiten. Die Rossis dieser Welt brechen dann klammheimlich auf, um ein Stück vom Glück zu suchen, während vor der Tür das Leben brummt. Stellt man sich bisher virtuelle Hochzeiten auf Textbasis eher unspektakulär vor ("Willst du die blabla in Ehren blabla bis das der Provider euch scheidet? *hüstel* JA! *lol*"), so eröffnen sich dank neuartiger Kreationssoftware mit einem schicken Körper und in passenden Umgebung ungeahnte Möglichkeiten. Das höchste der Gefühle ist es dann, im Avatarenleben virtuell geknutscht zu werden, der Rumtreiberei ein Ende zu setzen, seßhaft zu werden und der Community ein lautstarkes JA. ICH WILL! entgegenzubrüllen. Tri tra trallala...Durch die geschickte Wahl von Mehrfachidentitäten kann man natürlich auch öfters knutschen. Bei Paw und Tom gipfelte die Romanze in genau einer solchen virtuellen Hochzeit. Leider hatte ich vor längerer Zeit nur kurz die Gelegenheit, auf der Seite von "WorldsAway" reinschnuppern. Wie gerne wäre ich dabei gewesen, um meine Glückwünsche als männliche weibliche Undercover-Brautjungfer abzusondern. Grund waren Verbindungsprobleme. Wer übrigens wissen will, wie die 10 jährige Ehe von Paw und Tom verlief, kann ja mal bei WorldsAway vorbeischauen. Ich bin sicher, dass die beiden irgendwann und irgendwo in einer noch schöneren Welt wieder auftauchen. Ganz bestimmt. Auch wenn sie sich im realen Supermarkt beim Einkauf ihrer Tiefkühlpizzen für's Wochenende wahrscheinlich nicht einmal mit dem Arsch anschauen würden. Wir werden es erleben. Und ich geh' jetzt einen trinken.

[Bildquelle: SPIEGEL special, Ausgabe 03/1997, S.36, "Elektronisches Kasperle"]

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