Donnerstag, 9. November 2006
Maniakalisch
appatoon, Donnerstag, 9. November 2006, 13:17
Gestern hatte ich so eine kurze Flash-Back-Situation aus meiner Vorschulzeit. Ich war gerade geistig am rotieren und da fiel mir dieser verschüttete Gedankengang wieder ein. Ich hatte damals seltsame Wahrnehmungsveränderungen, wenn ich mich um mich selbst drehte. Damit meine ich nicht das bekannte Phänomen des "Drehwurms", sondern eine Variante davon. Behaupte ich jetzt einfach mal. Das Problem bestand nicht in der Geschwindigkeit mit der ich mich drehte, sonders das ich mich drehte. Kurz und gut: in meiner kindlichen Vorstellung entfernte ich mich mit jeder Umdrehung aus dem gegenwärtigen Raum-Zeit-Kontinuum. Wobei die Begriffe "Raum" und „Zeit" damals Begriffe waren, die ich gar nicht kannte. Und "Kontinuum" schon gar nicht. Mein alltäglicher räumlicher Horizont endete in der einen Richtung beim geheimen Baumhaus im Wald und in der anderen Richtung beim Zeitschriftenhändler, dem ich in rauhen Mengen Klebebilder, Kaugummi und in Frustsituationen auch Stinkbomben in Ampullenform abnahm. Und "Zeit" war gleichbedeutend mit dem Begriff "Unendlichkeit", auch wenn ich bei Opas Geschichten im Laufe der Zeit immer nachdenklicher wurde. Jedenfalls war mir immer etwas befremdlich zumute, wenn ich mich drehte. Der unangenehme Teil an dieser Vorstellung war das Gefühl, nach x-Umdrehungen im Uhrzeigersinn mich genau wieder x-mal gegen den Uhrzeigersinn drehen zu müssen. Eben um an dem Ausgangspunkt zu landen, an dem ich die Dreherei begann. An dieser Stelle des Beitrags höre ich vielleicht ein leichtes Klicken beim ein oder anderen Leser. Mit Recht – das riecht ja förmlich nach einer ausgewachsenen Manie. Das dachte ich mir auch mit einsetzender Pubertät und der damit verbundenen Aufwachphase und beschäftigte mich daraufhin für ein paar Tage insgeheim mit diesem Phänomen. Hobbypsychologen im näheren Bekanntenkreis wurden geschickt konsultiert: "Äh..sag' mal... Wo wir gerade beim Thema sind...ich kenn' da jemanden, der hatte da mal so ganz komische Vorstellungen...was könnte das denn sein? Hä? Was? Öh...". Die semiprofessionellen Analysen waren durchweg niederschmetternd. Alle Antworten drehten sich um das Thema "Angst" [Klick!]. Zusammengefasst waren die zentralen Aussagen die Angst vor Veränderung und vorm Verlassenwerden. Und das alles, obwohl ich eine glückliche Kindheit hatte? Hmmm.... Dann kam eine lange Phase mit einer geeigneten dunklen Schublade – eben bis gestern. Zurückblickend könnte da etwas dran sein. Wie da wären die Abneigung gegen Drehkarusells auf dem Spielplatz (ich kam mit dem Zählen der Umdrehungen nicht hinterher). Oder das Verschwindenlassen des Briefes von meinem Lehrer an meine Eltern mit Informationen zum anstehenden Tanzkurs in der Schule. Letzteres Beispiel hatte aber auch andere Gründe. Ja – die Indizien sprechen für sich. Hatte ich nu eine Manie oder nicht? Eine halbe Drehung, ein Griff ins Bücherregal, im kleinen Brockhaus aus dem Jahr 1927 nachgeschaut und zwischen den Begriffen "Manichäer" und "Manier" fündig geworden:

Manie [grch.], oft heilbare, vielfach aber auch leicht wiederkehrende Form der Geisteskrankheit, die als maniakalische Exaltation oder als maniakalische Tobsucht auftritt. Auch leidenschaftliche Liebhaberei, z.B. für Bücher (Bibliomanie)

Welch schöne Definition. Meine ausgefallene vorpubertäre Drehhemmung erwartete ich natürlich nicht als Beispiel für Manie. Wenn das auf der Krankheitsstufe von Bibliomanie als Liebhaberei anzusiedeln ist, kann ich damit sogar sehr gut leben. Man kann sich am Buch festhalten, linear der Geschichte folgen und sich an den Seitenzahlen orientieren, während dabei das Drehen nur noch im Kopf stattfindet.

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